Buchbesprechung - Einführung in die Bewegungswissenschaft

17. Juni 2024 - 9:19 -- Christoph Dolch

Anfang des Jahres haben wir hier eine Buchbesprechung der "Einführung in die Bewegungswissenschaft" von Prof. Dr. Ernst-Joachim Hossner und Stefan Künzell veröffentlicht. Ergänzend hierzu folgt nun ein weiterer Blick auf das neue Standardwerk der Bewegungswissenschaft, diesmal aus der Perspektive der Praxis. Diesen Blick liefert der langjährige Dozent der Trainerakademie Köln, Dr. Peter Wastl.

Das 500 Seiten starke Buch bietet eine umfassende Einführung in die Bewegungswissenschaft und richtet sich an Sportstudierende, aber auch an Trainer*innen und Übungsleiter*innen mit der Absicht, sich mit den wesentlichen Strukturen, Begriffen, Gegenständen und Fragestellungen der Bewegungswissenschaft vertraut zu machen.

Entsprechend dem großen Adressatenkreis ist der Gegenstandsbereich der Ausführungen breit angelegt. Neben dem Schulsport werden ausdrücklich und ausgiebig sportliche Handlungsfelder außerhalb der Schule mit ihren bewegungswissenschaftlichen Implikationen mit einbezogen. Dabei geht der einheitsbildende Rahmen des Buches von einer funktionalen Perspektive der Sportmotorik aus, indem der Fragestellung nachgegangen wird, durch welche internen Prozesse komplexe sportliche Bewegungen einerseits kontrolliert und gelernt werden können, sowie sich im Lebenslauf entwickeln.

Zu Beginn geben die Autoren in ihrer Einführung wichtige Hinweise zum stets gleichbleibenden Aufbau des Buches und erteilen Ratschläge, wie man die Lektüre angehen soll. In Anbetracht der Fülle und Komplexität des Lernstoffs ein sehr hilfreicher Einstieg. Um eine höhere Aufmerksamkeit zu erreichen, haben die Autoren ihre Einleitung in Anlehnung an einen typischen „Beipackzettel“ verfasst. Dieser liest sich flüssig und ist in jedem Fall wissenswert und nutzbringend, denn er bietet wichtige Informationen zur Strukturierung des Buches und den zugrunde liegenden Überlegungen der Autoren.

Das Buch besteht neben Vorwort, Einführung, Literatur- und Sachwortverzeichnis und einem abschließenden Bildnachweis insgesamt aus 16 Hauptkapiteln. Jedes der Hauptkapitel widmet sich einem Kernthema der Bewegungswissenschaft und folgt einem immer wieder gleichen Aufbau. Es beginnt mit einer anwendungsorientierten sportpraktischen Fragestellung, welche im Laufe des Kapitels aus der theoretischen Ableitung heraus beantwortet wird und ggf. von den Leser*innen bereits während der Lektüre beantwortet werden kann. Danach folgen zwei Teile. Im ersten, auf weißem Papier gedruckten Teil wird das jeweilige Kern­thema mit zahlreichen praktischen Beispielen aus den unterschiedlichsten Sportarten bearbeitet. Im zweiten, auf blauem Papier gedruckten Teil wird das jeweilige Kernthema wissenschaftsorientiert mit Theorien und Befunden vertieft. Während der erste Teil eher für Leser*innen mit einem praxisorientierten Erkenntnisinteresse ausgelegt ist, ist der zweite Teil an Adressaten gerichtet, die an einer wissenschaftlichen Vertiefung interessiert sind. Ein kluger Aufbau, der es dem eher praxisorientierten Anwender ermöglicht, den jeweils zweiten Teil eines Hauptkapitels zu überspringen. Andererseits empfehlen die Autoren, die Reihenfolge der 16 Hauptkapitel einzuhalten.

Besonders ansprechend ist die gut strukturierte Einbettung praktischer Beispiele in die theoretischen Grundlagen der einzelnen Kernthemen. Dies führt dazu, dass das vorliegende Buch für die breite Zielgruppe, wie Trainer*innen, Sportlehrkräfte und Sportstudierende, gewinnbringend konzipiert ist. Das Verhältnis zwischen theoretischen Grundlagen, anwendungsbezogenen Praxisbezügen und wissenschaftlicher Vertiefung ist annähernd ausgeglichen.

Am Anfang werden in den Kapiteln 1 bis 4 grundlegende Aspekte der motorischen Kontrolle vorwiegend aus der Außensicht einer beobachtbaren Bewegung (Bewegungsbeschreibungen, Bewegungsaufgaben, biomechanische und biologische Randbedingungen) behandelt, bevor in den Kapitel 5 bis 7 bis hin zur funktionalen Theorie der internen Modelle mehr die Innensicht des Bewegers (Wahrnehmung und Handlungskopplung) in den Vordergrund rückt. Darauf aufbauend wird in den Kapiteln 8 bis 13 das Lernen von Bewegungen aus verschiedenen Perspektiven (Erwerb von Bewegungsfertigkeiten, Lernunterstützungen, Neulernen, Optimieren, Rückmeldungen, Transfer) heraus näher behandelt. Die Kapitel 14 und 15 befassen sich mit der motorischen Entwicklung im Lebenslauf und ganz am Ende wagen die Autoren in Kapitel 16 einen Blick über den Tellerrand hinaus, indem Aspekte der motorischen Fähigkeiten aus konstitutioneller und konditioneller wie auch taktisch und persönlichkeitsbezogener Hinsicht in den Fokus genommen werden

Tragendes Gerüst des Buches ist die von den Autoren entwickelte Kontrolltheorie interner Modelle, welche in Kapitel 7 genauer dargelegt wird und in den dann folgenden Kapiteln unter ständigem Rückgriff auf die zentrale Abbildung (S. 183) weiter behandelt wird. Fortlaufend wird aus der Perspektive der Theorie interner Modelle die enge Wechselbeziehung zwischen Bewegung und Wahrnehmung und deren Bedeutung für die Antizipation von Effekten erörtert. Dies geschieht unter Einbezug vieler praktischer Beispiele und Befunde und liefert für die Praxis des Lehrens und Lernens in den Folgekapiteln wertvolle Aufschlüsse und Anregungen. Dabei wird durchgehend auf Inhalte vorheriger und folgender Kapitel Bezug genommen und an geeigneten Stellen Bezüge zu anderen sportwissenschaftlichen Teildisziplinen wie Trainingswissenschaft, Sportpsychologie und Sportpädagogik hergestellt.

Insgesamt wird dem Anspruch der Leserfreundlichkeit voll entsprochen. Die häufig recht komplexen inhaltlichen Bestandteile und Zusammenhänge, die eine Einführung in die Bewegungswissenschaft zu transportieren hat, werden den Leser*innen in einer gelungenen Mischung von grundlegenden Sachverhalten und für das Verständnis hilfreichen Konkretisierungen an geeigneten Beispielen aus unterschiedlichsten Sportarten und Problemstellungen nahegebracht. Zudem ist die praktizierte durchgängige spezielle Erklärung von Fachbegriffen und Fremdworten sowie Definitionen sowohl im Fließtext als auch in blau unterlegten Kästchen nicht nur sehr hilfreich, sondern in Anbetracht der Komplexität der Thematik bzw. des Lernstoffs geradezu wünschenswert und notwendig.

Kritisch anzumerken ist die sehr detaillierte und in Teilen etwas langatmige Darstellung recht komplizierter theoretischer Zusammenhänge in den auf blauem Papier gedruckten Vertiefungsteilen. Die dort angeführten und der Vertiefung der jeweiligen Kernthemen dienenden wissenschaftlichen Theorien und Befunde gehen an einigen Stellen über den Anspruch eines einführenden Lehrbuchs hinaus und sind nur „schwer zu verdauen“.

Kernstück des Buches ist die klare, konsequente Systematik und exzellente Struktur. Die Leser*innen werden von der grundlegenden Theorie über anwendungsorientierte Praxisbeispiele bis hin zu wissenschaftlichen Vertiefungen sehr gut geführt, so dass einerseits Zusammenhänge klar werden können, es aber auch gut machbar ist, sich in Teilstücke des Buches zu vertiefen, die gerade für die Leser*innen eine besondere Relevanz haben.

Bilanzierend liegt ein fundiertes Werk zur Bewegungswissenschaft vor, das theoriegeleitet und praxisorientier zugleich ist, sowie für verschiedene Adressatengruppen eine hilfreiche Lektüre bietet. Insgesamt ein lohnendes Buch, welches zu einem Blick auch über die Fachgrenzen einlädt und neue Perspektiven öffnen kann.

Dr. Peter Wastl
Dozent an der DOSB-Trainerakademie Köln

Ernst-Joachim Hossner & Stefan Künzell
Einführung in die Bewegungswissenschaft
Wiebelsheim: Limpert Verlag
501 Seiten. ISBN 978-3-7853-1849-2. € 29,95

 

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