Prof. Dr. Ernst-Joachim Hossner ist Institutsdirektor & Ordinarius der Abteilung Bewegungs- und Trainingswissenschaft der Unviersität Bern. Gemeinsam mit Stefan Künzell veröffentlichte er in 2022 "Einführung in die Bewegungswissenschaft". Im vergangenen Jahr konnte die Trainerakademie Köln des DOSB ihn erstmals als Dozent im Diplom-Trainer-Studium gewinnen.
Nun erschien in Heft 12 der Zeitschrift Sportunterricht eine ausführliche Buchbesprechung des neuen Standardwerks der Bewegungswissenschaft von Prof. Dr. Hans-Georg Scherer, die wir hier mit freundlicher Genehmigung des Hofmann Verlags veröffentlichen:
Buchbesprechung von Prof. Dr. Hans-Georg Scherer, zusammengestellt von Sebastian Ruin.
Ernst-Joachim Hossner & Stefan Künzell (2022)
Einführung in die Bewegungswissenschaft
Wiebelsheim: Limpert Verlag
501 Seiten. ISBN 978-3-7853-1849-2. € 29,95
Es mag Zufall sein, dass das vorliegende Buch mit 501 Seiten den gleichen Umfang hat wie der langjährige Lehrbuch-Klassiker „Bewegungslehre – Sportmotorik“ von Meinel und Schnabel (2015, 12. Aufl.). Sicherlich kein Zufall aber dürfte eine Übereinstimmung des in beiden Werken vertretenen Anspruchs sein, eine umfassende Einführung in die Bewegungswissenschaft in
einem einheitsbildenden Rahmen vorzulegen. Diesen Rahmen finden Hossner und Künzell (2022) in der funktionalen Perspektive der Sportmotorik, die danach fragt, durch welche internen Prozesse komplexe sportliche Bewegungen kontrolliert und gelernt werden.
Die „… lange Reise durch die Welt der Kontrolle und des Lernens komplexer Bewegungen …“ (S. 378) führt durch 16 Hauptkapitel mit je zwei Unterkapiteln erster und diese wiederum mit je zwei Unterkapiteln zweiter Ordnung. Um sich in der darin sichtbar werdenden Komplexität der Materie orientieren zu können, empfehlen die Autoren – und der Rezensent möchte dies unterstreichen – den Leser*innen zunächst die Lektüre der von ihnen „Beipackzettel“ genannten Einführung. Dieser Metapher folgend, erläutern die Autoren eingehend die Architektur des Buches sowie die – stets gleichbleibende Struktur – der einzelnen Kapitel. Die Hauptkapitel folgen in ihrer Reihenfolge einer organischen Problemgenese unter jeweils anwendungsorientierter Perspektive. Jedes Hauptkapitel wird mit der Klärung und Kommentierung des zentralen Kapitelbegriffs in einem blauen Kasten eingeleitet und besteht aus zwei Teilen.
Ein erster, auf weißem Papier gedruckter Teil, richtet sich vornehmlich an Leser*innen, die ein primär praxisorientiertes Erkenntnisinteresse haben und bearbeitet das gegebene wissenschaftliche Thema mit zahlreichen praktischen Beispielen aus unterschiedlichsten Sportarten. Der jeweils zweite, blau hinterlegte Teil eines jeden Kapitels vertieft das jeweilige Thema wissenschaftsorientiert mit Theorien und Befunden. Einschlägige bewegungswissenschaftliche Experimente werden zusätzlich in einem eigenen Kasten beschrieben. Eher praxisorientierte Leser*innen können diese wissenschaftsorientierten Vertiefungen durchaus auch überspringen, ohne dass ihnen dadurch der rote Faden der Darstellung verloren geht. Dagegen wird empfohlen, die Reihenfolge der Hauptkapitel einzuhalten. Dies gilt insbesondere ab Kapitel 5, in dem die Basis der erkenntnisleitenden funktionalen Perspektive entwickelt wird, die für die weiteren Kapitel grundlegend ist. Ein angesichts der gegebenen Vielfalt und Komplexität des Lehrbuches sehr hilfreiches Sachwortverzeichnis sowie ein Bildnachweis schließen den Band ab.
Inhaltlich nähert sich der Band von außen nach innen dem erkenntnisleitenden funktionalen Ansatz der motorischen Kontrolle, indem zunächst Randbedingungen der motorischen Kontrolle geklärt werden. Dabei werden in Kap. 1 zunächst Möglichkeiten der Beschreibung und Messung sportlicher Bewegungen geklärt, bevor in Kap. 2, mit Rückgriff auf Göhners (1979) funktionale Bewegungsanalyse, die sportliche Bewegungen über ihre Funktion bestimmt, Bewegungsaufgaben in einem durch mehrere Komponenten aufgespannten Aufgabenraum zu lösen, sozusagen die äußere Schale der internen Kontrolle dargestellt wird. In komplementärer (Innen-)Sicht zu diesem außensichtorientierten bewegungsanalytischen Ansatz beleuchtet der wissenschaftsorientierte zweite Teil dieses Kapitels Aufgaben- und Lösungsräume aus der Perspektive der Synergetik. Es wird deutlich, dass sich Bewegungskontrolle keineswegs nur präskriptiv, sondern zugleich auch in emergenter Weise durch selbstorganisierende Ordnungsbildung im Bewegungssystem in einem durch personen-, umwelt- und aufgabenbezogenen Randbedingungen bestimmten Aufgabenraum vollzieht. Die von den Autoren aufeinander bezogenen Erkenntnisse beider Ansätze zeigen schon hier die integrative Potenz der funktionalen Perspektive und spielen eine wichtige Rolle bei der Klärung interner Kontrollmechanismen der Motorik ab Kapitel 5. Zuvor werden in konsequenter Fortführung der Konstruktionsidee des Buches die umweltund personenbezogenen Randbedingungen in den Blick genommen. Da sportliche Bewegungen immer von einem biologischen Organismus in einer physikalischen Umwelt vollzogen werden, beschäftigen sich die Kapitel 4 und 5 mit biomechanischen und biologischen Grundlagen sportlicher Bewegungen.
Nachdem damit die wesentlichen Randbedingungen der motorischen Kontrolle geklärt sind, nehmen die Kapitel 5 – 7 die interne funktionale Architektur der Bewegungskontrolle bei der Lösung sportlicher Aufgaben durch motorische Fertigkeiten in den Blick. In systematisch aufbauender Weise wird die funktionale Schlüsseltheorie der internen Modelle entfaltet. Zunächst werden in Kap. 5 grundlegende Mechanismen der motorischen Kontrolle beschrieben und Erklärungsdefizite klassischer Kontrolltheorien aufgedeckt. Diese führen geradezu zwangsläufig zu einem Hauptproblem der motorischen Kontrolle, das in den Ungewissheitsbedingungen der relevanten Kontrollmechanismen zu verorten ist. Die Lösung dieses Problems durch das Modell einer effektkontrollierten Motorik mit einem zweistufigen Kontrollsystem wird in gut nachvollziehbarer Weise und flankiert mit praktischen Beispielen schlüssig hergeleitet. Damit ist der Grundstein der motorischen Kontrolle durch interne Modelle gelegt. In diesem Modell spielt die Wahrnehmung von Ausgangszuständen und die Vorhersage wahrnehmbarer Zielzustände für die Ermittlung derjenigen Bewegungskommandos eine entscheidende Rolle, „… die es braucht, um einen wahrgenommenen Ausgangszustand in die mit dem gewünschten Zielzustand verbundenen Wahrnehmungen zu überführen“ (S. 137, s. Kasten). Da Ausgangs- ebenso wie antizipierte Zielzustände immer nur wahrgenommene bzw. wahrnehmbare Zustände sein können, werden zwecks Differenzierung des Modells im nächsten Kapitel (Kap. 6) kontrollrelevante Faktoren der Situationswahrnehmung behandelt, die von der sensorischen Integration der Sinnessysteme über Blickstrategien bis hin zu Unsicherheitsfaktoren und deren Reduktion reichen. Wie solche Wahrnehmungsmechanismen bei der Bewegungskontrolle wirken, wird in Kap. 7 zur Wahrnehmungs-Handlungs-Kopplung geklärt. Mit Rückgriff auf psychoökologische Wahrnehmungstheorien wird die enge Wechselbeziehung zwischen Bewegung und Wahrnehmung und deren Bedeutung für die Antizipation von Effekten diskutiert. Die Ausführungen münden in die schlüssige Folgerung der Notwendigkeit eines optimierten internen Mechanismus zur Feedback-Kontrolle der Motorik. In diesem – ebenfalls mit zahlreichen praktischen Beispielen und Befunden unterfütterten – Kapitel gelingt den Autoren nicht nur die Darstellung einer komplizierten Materie auf dem „State of the Art“, sondern darüber hinaus die schlüssige Integration von Ansätzen, die lange Zeit in der wissenschaftlichen Diskussion als völlig unvereinbar galten, in die Theorie der motorischen Kontrolle durch interne Modelle. Mit der Theorie der internen Modelle ist damit ein aktueller und zugleich sparsamer Ansatz ausgearbeitet, der nicht nur für die universitäre Lehre, sondern ebenso auch für die Praxis des Lehrens und Lernens, für Lehrer*innen, Referendar*innen und Trainer*innen wertvolle Anregung zu liefern vermag und mit den folgenden Kapiteln zum Bewegungslernen als Leitfaden für die Anlage von Lehr-Lernprozessen dienen kann.
Darum geht es in den Kapiteln 8 – 13, wo es, basierend auf dieser Kontrollarchitektur, um die Frage geht, wie sich diese durch Lernprozesse aufbauen und verändern lässt und welche Maßnahmen dabei unterstützen können. Zuschnitt und Reihenfolge dieser Kapitel – im einzelnen Bewegungslernen (Kap. 8), Lernunterstützungen (Kap. 9), Neulernen (Kap. 10), Optimieren (Kap. 11), Rückmeldungen (Kap. 12) und Transfer (Kap. 13) – orientieren sich an Problemkreisen so, wie sie auch in der Sportpraxis relevant sind. Tragende Säule ist durchgängig die zuvor entwickelte Kontrolltheorie, sei es, dass Lernmechanismen direkt auf ihr aufgebaut werden oder sei es, dass Befunde, andere Modelle und praktische Maßnahmen auf ihrer Folie (re-)interpretiert und in den Theorierahmen aufgenommen werden. Somit entsteht nicht nur ein breiter und anwendungsorientierter Fundus für die Praxis, sondern es wird zugleich dessen theoretische Begründung geliefert, eine gelungene Theorie-Praxis-Synergie. Hier finden nicht nur praxisorientierte Nutzer*innen des Lehrbuches zahlreiche Anregungen, sondern auch theorieorientierte Leser*innen in den blau unterlegten Vertiefungen entsprechende theoretische Erkenntnisse. Eine wissenschaftstheoretische Reflexion, wie solcherart Theoriekombinationen, die das gesamte Buch durchziehen, machbar sind ohne den berüchtigten Kategorienfehler zu begehen, ist im Blick „über den Tellerrand“ in Kap. 16 zu finden.
Zuvor werden in den Kapiteln 14 und 15 der Kenntnisstand über motorische Entwicklung sowie entwicklungsgemäße Maßnahmen in Unterricht, Training und Therapie auf dem derzeitigen Stand der Forschung zusammengefasst.
Dem selbstgestellten Anspruch, ein Lehrbuch der Bewegungswissenschaft auf dem Stand der internationalen Forschung und unter Beachtung der unterschiedlichen bewegungswissenschaftlichen Ansätze in einem einheitsstiftenden theoretischen Rahmen vorzulegen, wird dieser Band vollauf gerecht. Es gelingt nicht nur eine theoretisch sehr gehaltvolle Einführung, sondern zugleich durch die praxisorientierten Teile und prägnanten Beispiele durchgehend eine vorbildliche TheoriePraxis-Verknüpfung. Zusammen gehalten wird das komplexe Unternehmen überdies durch seinen stringenten Aufbau, eine transparente Moderation und zahlreiche Querverweise zwischen den Kapiteln. Sicherlich war es ein sehr anspruchsvolles Unternehmen, dieses Buch zu schreiben. Für Leser*innen und Nutzer*innen des Werkes, ob als Lehrende, als Trainer*innen oder alsbStudierende sollte es ein Gewinn sein, damit zu arbeiten. Mit seiner grundlegenden und erschöpfenden Einführung in die Bewegungswissenschaft ist dieser Band als Standardlektüre für die bewegungswissenschaftliche Lehre unbedingt zu empfehlen.
Hans-Georg Scherer
https://hg-scherer.de/
https://hgscherer.homepage.t-online.de/